Wissen verhindert Innovation ... wundert Sie das?

Wissen verhindert Innovation! – Würden Sie da zustimmen? Zugegeben, in der Fragestellung lauert schon eine Paradoxie. Genau diese Paradoxie steht im Mittelpunkt unseres Beitrags. Wie leicht(fertig) geben wir alltäglich vor, etwas zu wissen, ohne die genauen Bedingungen und Hintergründe dieses Wissens zu benennen oder benennen zu können.
Ein kleiner Selbsttest zu Beginn dieses Beitrags gibt ein Hinweis darauf, wie Sie These „Wissen verhindert Innovation“ stehen.

Lösungen finden, Wissen entwickeln
Auf wunderbare Weise veranschaulicht die in der Skizze oben dargestellte Aufgabe, wie wir unser Wissen nutzen.
Nun nehmen Sie sich einen kleinen Augenblick Zeit, um die Aufgabe zu lösen. Wir denken, dass Sie das Ergebnis der letzten Gleichung recht schnell herausfinden werden.
Sie können die Aufgabe auch gerne mit Freunden und Kollegen gemeinsam lösen.

Warum sollte Wissen Innovation verhindern? Die provokative Frage adressiert zwei Problemkreise:

       Zum einen das Problem der Motivation: Denn warum sollte ich für eine innovative Veränderung offen sein, wenn ich doch ganz genau sehe, dass etwas gut funktioniert. Oder wie die bekannte IT-Weisheit es ausdrückt: »Never touch a running system!« In einem solchen Fall gibt es keinen Anlass, über Innovationen nachzudenken. In sozialen Systemen stellt sich das als Konfliktpotenzial dar. Denn während ein Teil des sozialen Systems vor sich eine Sackgasse und damit die Notwendigkeit von Veränderungen wahrnimmt, sieht ein anderer Teil, dass die Dinge doch ausgezeichnet laufen. Aus diesem Grund stellen Konzepte zum Veränderungsmanagement den sogenannten »Sense of Urgency«, die Vermittlung von Dringlichkeit, an den Anfang von Veränderungsprozessen (Kotter, 2011).

       Zum anderen weiß man ja, wie es ist! Das Wissen um einen Sachverhalt ist ja theoretisch und praktisch verankert und auf diese Weise wie in Stein gemeißelt. Wenn heraufsteigende Probleme nicht sichtbar sind, weil eine Veränderung in der Umwelt nur sehr langsam geschieht, zumindest langsamer als gedacht, oder wenn auftretende Anomalien eben als solche betrachtet und erfolgreich in bestehende Modelle und Sichtweisen integriert werden, dann bleibt die Macht des Wissens ungebrochen. Und Sätze wie »Das haben wir immer schon so gemacht« oder »Wir machen das ja schon so« signalisieren diese Macht.

Auf dieser Basis stellt Innovation eine besondere Herausforderung dar, wie es auch das bekannte, Henry Ford zugeordnete Zitat zeigt:

»Wenn ich die Menschen gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt: ›Schnellere Pferde!‹«

Daniel Kahneman hat in diesem Kontext darauf hingewiesen, dass Menschen gerne mit dem zur Verfügung stehenden Wissen zufrieden sind und es verwenden, selbst wenn sie wissen, dass dieses beschränkt ist. Wir verhalten uns so, als ob wir alles wissen, was man über ein Thema wissen kann:

»Die Konsistenz der Informationen, nicht Ihre Vollständigkeit, ist das, was für eine gute Geschichte maßgeblich ist«
(Kahneman, 2011, S. 114).

Diese Mechanik nennt er:
»WYSIATI – What you see is all there is« – »Nur was man gerade weiß, zählt« (S. 112).

Zusammenfassend kann man, Kahneman folgend, sagen: Wir, insbesondere wenn wir eingebunden sind in die Prämissen und Erwartungen eines sozialen Systems, sind schnell und auch erfolgreich darin, auf einer vorhandenen (beschränkten) Wissensbasis Urteile zu fällen, und langsam, wenn es darum geht, zu fragen: Was muss ich eigentlich (noch) wissen, um ein Urteil abgeben zu können?

Dieser Logik fällt auch der Truthahn in der von Nassim Taleb verwendeten Metapher zum Opfer. Aus der Perspektive des Truthahns, der in der »Obhut« von Menschen auswächst, entwickelt sich sein Leben gut und sein Wohlbefinden steigert sich von Tag zu Tag, bis er kurz vor Thanksgiving eine dramatische Überraschung erlebt. Das Erfolgsmodell stellt sich überraschend als Falle heraus (Taleb, 2008). Das »Wissen« um die stetige Verbesserung der Lebenssituation erweist sich als trügerische Sicherheit. Übrigens ist so gesehen die viel beschworene »Disruption« nur eine Frage der Perspektive: Was für den Truthahn disruptiv erscheint, ist in der Wahrnehmung eines Züchters »Kontinuität«.

Selbst wenn sich ein Irrtum offenbart, neigen wir auch im Nachhinein dazu, Kohärenz herzustellen. »Wenn ich das gewusst hätte, dann …« steht für diese Haltung, mit der es gelingt, selbst den Irrtum in das vorherrschende Wissensparadigma einzubauen. Das gilt sogar für unsere kleine Rechenaufgabe.

Wissensbasierte Ergebnisvariationen

Wir nehmen an, dass Ihr Ergebnis für die letzte Zeile in folgenden Schritten erreicht wurde. Zunächst erstellten Sie vermutlich eine Legende: Der Apfel steht für 10, die Bananen für 4 und die Kokosnuss für 2. Also lautet das Ergebnis der letzten Aufgabe: 16. Die Argumentation ist kohärent und damit das Ergebnis in sich schlüssig. Sie sind vermutlich mit dem Ergebnis sehr zufrieden, wie es übrigens auch wir waren, als wir die Aufgabe das erste Mal sahen. Und an dieser Stelle gibt es offenbar keinen Grund, weiterzulesen oder weiter an dem Rätsel zu arbeiten, denn das Rätsel scheint ja gelöst.

Haben Sie sich eigentlich gefragt, was Sie genau wissen müssen, um die Aufgabe zu lösen? Vermutlich nicht. Denn tatsächlich sind auch folgende Ergebnisse möglich bzw. zutreffender. Denn in Aufgabe III sind zwei Kokosnusshälften zu sehen und in Aufgabe IV wird nur eine Hälfte verwendet – dann würde das Ergebnis in der Konsequenz 15 lauten. Auch damit könnte man zufrieden sein. Aber wir sollten noch darauf hinweisen, dass in der letzten Aufgabe nur 3 Bananen zu sehen sind, während in den Aufgaben zuvor immer 4 verwendet wurden. Dann wäre 14 das richtige Ergebnis.

Nun, nachdem Sie die möglichen Ergebnisse kennen und vielleicht überprüft haben, ist der »Irrtum« zum einen kaum noch nachvollziehbar: »Wie konnte ich das übersehen!« Zum anderen können Sie auch darauf beharren, dass nicht die Zahl der Früchte für den »Algorithmus« relevant ist, sondern lediglich die Art der Frucht.

Wissen und Erfolg verhindern Innovation. Die kleine Demonstration zeigt, wie schnell »Wissen« und »Erfolg« dazu führen, dass die »Lösungsmaschine« Gehirn nicht mehr nach neuen Wegen sucht. Und dieser Effekt vervielfacht sich in einem sozialen System, indem durch Kommunikationen erfolgreiche Strukturen und Vorstellungen vergemeinschaftet und verfestigt werden.

Quelle: Dieser Abschnitt ist entnommen aus:
50 systemische Demonstrationen