Thorsten Schlaak & Manfred Schwarz
In Zeiten von Corona, wo nichts so recht planbar, aber doch eine Menge zu tun ist, möchten wir ein Loblied auf den Bastler singen. Wir nennen ihn Claude Lévi-Strauss folgend und für deutsche Ohren ein wenig vornehmer Bricoleur. Der Bastler improvisiert – mit dem, was da ist, und dem was, der Baumarkt anbietet, sofern er öffnen durfte.
Klingt ressourcenorientiert, oder? Und damit wird es systemisch.
Man nehme oder man habe – Kochen nach Rezept oder selbst »zaubern«?
»Man nehme …« – das kennen Sie von Rezepten. Lassen Sie uns dazu ein kleines Gedankenexperiment machen.
Stellen Sie sich vor, Sie haben Hunger, erwarten Gäste und haben keine Möglichkeit, sich etwas zu besorgen. Sie müssen selbst etwas zubereiten. Jetzt kommt das »Man nehme« ins Spiel. Heute sind wir es gewohnt, das Nötige einfach einzukaufen oder zu bestellen. Der Supermarkt ist gewissermaßen immer nur ein paar Schritte oder einen Mausklick entfernt. Doch, was wenn keine Möglichkeit dazu besteht?
Aus dem »Man nehme« wird jetzt eher ein »Man habe«. Oder anders gesagt: Sie können nicht in den Supermarkt, Sie haben nur Ihre Vorratskammer – mehr nicht.
Es geht also nicht darum, ein Rezept zu haben und dann einkaufen zu gehen. Sondern darum, Vorräte zu haben und damit – und nur damit – etwas anzufangen, also ein schmackhaftes und sattmachendes Gericht zu »zaubern«.
Was könnten Sie z. B. aus diesen Zutaten alles zubereiten:10 Eier, 1 Liter Milch, eine Packung Mehl, eine Packung Zucker, Puderzucker, eine Vanillestange, Orangen, eine Packung Salz, Butter, Obst im Glas, Paprika, Pilze?
Also, lassen Sie Ihrer Fantasie freien Lauf: Mit welchen aus diesen Zutaten bereiteten Gerichten wollen Sie sich und Ihre Gäste bewirten?
Hintergrund
Im vorangestellten Gedankenexperiment geht es darum, mit den vorhandenen Ressourcen das Beste zu erreichen. Claude Lévi-Strauss wählte dafür den Begriff Bricolage (von französisch »bricoler«: herumbasteln). Der »Bastler« löst Probleme mit den ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen, statt sich besondere, speziell für das Problem entworfene Mittel zu beschaffen.
So wie im Film »Apollo 13« (u. a. mit Tom Hanks), in dem es zu einer Explosion kommt. Das Raumschiff schlingert, taumelt stark, kann kaum noch auf Kurs gehalten werden und die Tanks verlieren sehr viel Sauerstoff. Da auch die Brennstoffzellen zur Erzeugung elektrischer Energie Sauerstoff benötigen, bricht die elektrische Energieversorgung teilweise zusammen. In einer Filmsequenz muss die Apollomannschaft runde CO2-Filter durch eckige Filter ersetzen – natürlich nur mit den an Bord befindlichen Möglichkeiten. Unter anderem kommt eine Socke zum Einsatz.
Lévi-Strauss stellte dem Bricoleur den Ingenieur gegenüber. Beide sind Metaphern für zwei unterschiedliche Denk- und Arbeitsweisen: der auf Grundlagen aufbauende, rational entwickelnde Ingenieur und der aus Vorhandenem – auch zweckentfremdend – improvisierende Bricoleur.
Ein anschauliches Beispiel für das Agieren als Bricoleur bietet der Fernsehserienheld MacGyver: Aus den bestehenden Ressourcen improvisiert er in jeder Folge immer eine Lösung. Der Agent James Bond kann sich hingegen immer auf die technischen Wunderwerke von Q verlassen.
Für die Praxis:
Ressourcen- und Lösungsorientierung
Sie sehen, hier geht es um Ressourcen- und Lösungsorientierung: einen der Kernpunkte des systemischen Denkens.
Systemiker denken ressourcenorientiert statt defizitorientiert: Das heißt, wir gehen von der Annahme aus, dass jedes System bereits über alle Fähigkeiten und Kräfte verfügt, sein Problem zu lösen. Es nutzt sie eben nur derzeit nicht.
Ressourcenorientierte Fragen
Offene kompetenz- und ressourcenorientierte Fragen sind Fragen, die dem Gegenüber Kompetenzen und Ressourcen unterstellen und eine prozessorientierte Antwort hervorrufen, die durch Nachfragen noch erweitert werden kann: »Wie noch …?« oder »Was noch …?«. Diese Art Fragen sind typisch für eine systemische Gesprächsführung. Sie geben dem Gegenüber die Hauptredezeit und verlangen gleichzeitig viel Energie und Zeit zur Beantwortung.
Beispiel: Eine Mitarbeiterin, die neue Erzieherin, arbeitet aufmerksam, aber mit wenig Energie. Ihr Chef leistet die »Schwerstarbeit« im Gespräch mit ihr, da er durch seine Fragen neue Interpretationen und Deutungen schafft:
Lösungsorientierte Fragen
Der konsequente nächste Schritt: lösungsorientiert statt problemfixiert. Dies steht für die Suche nach positiven Um-Deutungen des Problems, nach Ausnahmen vom Problem, dem ersten kleinen Schritt in Richtung Lösung usw.
Die paradoxe Frage kann eine gute Vorbereitung für die lösungsorientierten Fragen bieten. Im Unterschied zur paradoxen Frage liegt bei der lösungsorientierten Frage aber der Fokus auf den vorhandenen Ressourcen und Lösungsmöglichkeiten für das jeweilige Problem. Diese Fragenart gibt Ihnen die Möglichkeit, das Gespräch mit Ihrem Gegenüber auf positive Weise zu gestalten.Lösungsorientierte Fragen helfen, herauszufinden,
– welche Strategien und Möglichkeiten bereits ausprobiert wurden,
– welche Fähigkeiten und Chancen noch im Verborgenen liegen.
Steve de Shazer, einer der Mitgründer der lösungsorientierten Kurzzeittherapie, hat seine entsprechenden Interventionen mit einem Dietrich verglichen. Dieser Dietrich kann als Lösungsschlüssel bei verschiedenen Schlössern dienen, also z. B. bei Problemen oder Veränderungsprozessen. Von de Shazer stammt der über sein Modell hinaus bekannte Satz (de Shazer, 1985, S. 12):
»Problem talk creates problems. Solution talk creates solutions.«
Also: »Gespräche über Probleme erzeugen Probleme. Gespräche über Lösungen erzeugen Lösungen.«
Gestützt wird die lösungsorientierte Therapie durch aktuelle Forschungsergebnisse der Hirnforschung, insbesondere das Konzept der Neuroplastizität. Das besagt, grob vereinfacht, dass das Gehirn seine Struktur und seine damit zusammenhängende Funktion fortlaufend verändert und den gemachten Erfahrungen anpasst: Wenn ich beginne, lösungsorientiert zu denken und zu handeln, passt sich auch meine Gehirnstruktur daran an. Und ich habe damit gute Voraussetzungen geschaffen, weitere lösungsorientierte Erfahrungen zu machen.
Also: Nicht das Problemverständnis vertiefen, sondern erkunden, wie es besser sein könnte.
Und welche Gerichte konnten Sie »zaubern«?
Hier unsere Ideen:
Wir sind bei unseren Überlegungen auf diese Gerichte gestoßen: gekochte Eier, pochierte Eier, Rühreier, Omelett, Crêpes, Eier im Glas, Eischnee, SchneeEier, Eiweißwürfel, Pfannkuchen, Salzburger Nockerln, Palatschinken, Kaiserschmarrn und Orangensoufflé.
Ein Tipp dazu: Vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft gibt es für Android und iOS die App »Zu gut für die Tonne«. Mit ihr können Sie auch von Sterneköchen erfahren, wie sie die Reste in der Vorratskammer ressourcenorientiert nutzen.
Quelle: Dieser Abschnitt ist entnommen aus:
„50 systemische Demonstrationen„