Tetralemma - auf dem Weg zur richtigen Frage

Wer heute in Zeiten von Corona Entscheidungen treffen will, steht schnell vor einem Dilemma: den eigenen Geschäften inklusive Kundenkontakt nachgehen oder auf Nummer sicher gehen und im Homeoffice bleiben?

Abhilfe könnte da eine Erweiterung des Entscheidungs- und Handlungsraums schaffen: hin zum Tetralemma.

 

In drei Sätzen zusammengefasst: Eine Aufgabe, die in ein Dilemma führt, das nicht aufgelöst werden kann, stellt nicht die richtige Frage. Mit dem Werkzeug des Tetralemmas kann sie eskaliert, also auf eine höhere Stufe gestellt werden. Dort können neue Einsichten entwickelt und schließlich die richtige Frage eingegrenzt werden, die dann »nur« noch entschieden werden muss. Wie funktioniert das?

Eine Frage des Standorts?

Stellen Sie sich vor, Sie sind Teil der Geschäftsführung eines Logistikunternehmens und stehen vor der Herausforderung, für Ihr spezialisiertes Stückgutgeschäft einen neuen zentralen Umschlagplatz aufzubauen. Da das Unternehmen bereits kleinere Standorte in Rotterdam und Marseille unterhält, werden beide Szenarien geprüft und gerechnet. Die jeweiligen Standortleiter und ihre Teams haben Umsetzungskonzepte für diesen neuen Plan entwickelt. Und bei den örtlichen Behörden wurden die Erweiterungspläne eingereicht, geprüft und genehmigt. Das Ergebnis ist nicht eindeutig: Beide Lösungen haben Vor- und Nachteile. Die unterschiedlichen Renditeaussichten sind mit entsprechenden Risiken verbunden. Alle relevanten Fakten liegen vor und sprechen für Rotterdam, aber im Hinblick auf mögliche Innovationen liegt Marseille weit vorne.

Beide Standortleiter präsentieren ihr Standortkonzept und argumentieren insbesondere mit den bisher erreichten Ergebnissen, die in der Vergangenheit ausgezeichnet waren. Aber gerade in letzter Zeit hat Marseille Schwierigkeiten mit wichtigen Kunden und in Rotterdam gibt es Probleme, qualifizierte Mitarbeiter zu finden.

Sie sind aufgefordert, im Vorfeld der nächsten Geschäftsleitungssitzung Ihre Stimme abzugeben, um das Abstimmungsverfahren in der Sitzung zu beschleunigen.

Für welchen Standort stimmen Sie?

Vergleichbare Fragestellungen wie in unserem Beispiel kommen häufig vor. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass man durch die bekannten und als relevant wahrgenommenen Bedingungen mal die eine und mal die andere Lösung favorisiert. Dabei stehen sich Vor- und Nachteile gegenüber, es werden unscharfe Risiken benannt, deren Eintreten unsicher ist, und die Entscheider gewinnen den Eindruck, dass vieles gut, aber nicht überzeugend ist, sodass sie im Wesentlichen unentschieden und damit handlungsunfähig sind.

Hier kann die bewusste Konstruktion eines Tetralemmas helfen. Denn zum einen werden im Tetralemma zwei weitere Optionen eingeführt. Zum anderen hilft es, die eigentliche Aufgabenstellung einzugrenzen. Außerdem kann die Bearbeitung des Tetralemmas neue Möglichkeiten in den Entscheidungsprozess einführen.

Das Tetralemma (gr. tetra = vier, lemma = Annahme) kann als Hilfskonstruktion genutzt werden, mit dem ein Objekt, eine Situation, eine Beobachtung oder eine Fragestellung logisch umfassend bearbeitet werden kann. Das aus dem Buddhismus stammende Denkschema besteht aus vier gleichgewichteten Sätzen, die sozusagen den logischen Raum einer Aussage abstecken und ordnen:

       Das eine trifft zu, das andere nicht.

       Das eine trifft nicht zu, das andere trifft zu.

       Beides trifft zu.

       Keines von beiden trifft zu.


Das Tetralemma formal logisch
Mit den Ausdrucksmöglichkeiten der formalen Logik kann man sagen: Wenn X für eine beliebige Aussage steht, dann bedeutet:

Rotterdam oder Marseille oder …?

Wenn Sie nun das Tetralemmaschema auf die Standortfrage unseres Gedankenexperiments anwenden, dann geht es nicht mehr nur um die Frage »Rotterdam oder Marseille?«, denn das Schema erweitert die möglichen Antworten. Beispielsweise könnte das Ergebnis im Rahmen einer Tetralemmabearbeitung wie folgt aussehen – wobei die Optionen A) und B) mögliche Antworten auf die ursprüngliche Fragestellung wären:

 Neue Optionen

Bei der Anwendung des Tetralemmas zeigen sich neue Optionen:

Zum einen stellt sich die Option der Vereinbarkeit von X und Nicht-X (Option C) dar. So stellt sich heraus, dass es sich dabei um keinen Gegensatz handelt, sondern lediglich um einen Unterschied. Oder dass der Gegensatz, sobald er in einen anderen Kontext gestellt wird, verschwindet bzw. nicht mehr relevant ist.

Zum anderen wird durch die Beschäftigung mit der Option D, die beide Angebote ausschließt (X und Nicht-X), deutlich, dass die Lösung an anderer Stelle zu suchen ist. Wird diese Option favorisiert, dann ist das ein deutliches Zeichen, dass die ursprüngliche Fragestellung allenfalls heuristischen Charakter hat, aber im Wesentlichen die Aufgabe oder das Problem nicht trifft.

Ergänzend: Die erfolgreiche Beschäftigung mit den Optionen C und D ist ein Hinweis darauf, dass die ursprüngliche Fragestellung eigentlich eine Entscheidungsfalle ist – so wie in diesem Fall:»Willst du lieber Spinat oder Bohnen?« Nach kurzer Überlegung stellt das Kind fest: »Ich will aber Pizza!«

Die Ausarbeitung der vier Optionen eines Tetralemmas führt zu einer Erweiterung der Perspektive: Wenn man die Option D, weder das eine noch das andere, als Szenario durchdenkt, dann beginnt die Suche nach neuen Möglichkeiten, an die bisher noch nicht gedacht wurde. Der Rahmen der Fragestellung wird neu gesetzt. Es beginnt die Suche nach der richtigen Frage.

In unserem Gedankenexperiment würde das z. B. zur Folge haben, dass ganz andere Standorte in Erwägung gezogen werden.

Aber vielleicht haben Sie ja selbst bereits eine ganz andere, neue Fragestellung entwickelt?

»Nichts von alledem und das auch nicht!«

Dieser Satz kennzeichnet eine fünfte Perspektive, eine Art Nicht-Position auf einer Metaebene, die als Ausdruck eines grundsätzlichen Skeptizismus gegenüber dem Für-wahr-Genommenen betrachtet werden kann. Diese Perspektive sieht die Lösung nicht in der weiteren Bearbeitung des Tetralemmas, sondern erfordert eine grundsätzliche Öffnung.

Diese Konstruktion, aus der mithin die Verzweiflung spricht, dass es das bisher Gedachte nicht gewesen sein kann, sondern etwas ganz anderes sein muss/sollte, bricht mit den bisherigen Untersuchungsmustern und sucht nach Neuem. Sie wandelt Verzweiflung in Hoffnung, indem sich die Person oder das soziale System, frei nach Ernst Bloch (1973), auf den Weg macht, das NochNicht-Bewusste zu finden.

Zum Weiterdenken
Pointiert könnte man sagen: Steckt man in einem Dilemma fest, kann das Tetralemma hinausführen. Es führt zu erweiterten, kreativen Perspektiven und mit etwas Glück hin zur richtigen Fragestellung, genau genommen also zurück zum Dilemma. Wenn die Rotation zwischen Dilemma und Tetralemma zur Ruhe kommt und wenn das Dilemma hinreichend eingegrenzt ist, dann muss »nur« noch entschieden und dann umgesetzt werden.

In der systemischen Praxis wird das Tetralemma in Strukturaufstellungen genutzt, so wie sie z. B. von Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd entwickelt wurden.

Quelle: Dieser Abschnitt ist entnommen aus:
50 systemische Demonstrationen