Thorsten Schlaak & Manfred Schwarz
Was fällt Ihnen leichter: Den letzten Tatort-Krimi mit einem detaillierten Text oder auf einer Notenskala von 1 bis 10 zu bewerten? Zugegeben, eine rhetorische Frage. Eine Note hat man viel schneller parat als einen ganzen Text. Vor allem, wenn der Text Adjektive enthalten soll, die über die Präzision von „spannend“ und „interessant“ hinausreichen.
Im Systemischen arbeiten wir gerne mit Skalierungsfragen. Sie bringen – sehr schnell – Einsichten in die unterschiedlichen Perspektiven.
Die Überschrift klingt zunächst widersprüchlich. Die Ableitung qualitativer Schlussfolgerungen aus quantitativen Ergebnissen füllt unzählige Regalmeter zur Auswertung von Statistiken. Wir meinen hier aber etwas anderes, nämlich das Schätzen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Einschätzung, nicht Wertschätzung ist unser Thema. Es geht darum, wie Skalierungsfragen, die immer Fragen der Einschätzung sind, ihren qualitativen Wert entfalten.
Im Allgemeinen erwarten wir auf Fragen präzise Antworten. Schätzen gilt da als ungefähr, ungenau und fehlerhaft. Schätzen hat jedoch seinen Wert, denn im kommunikativen Prozess des Schätzens entstehen Informationen, weil eine Bezugsgröße, Unterschiede oder eben Gleichheit definiert werden müssen. Und das erfordert die Festlegung einer Perspektive. Außerdem geht es darum, das Bezugssystem zu benennen und das zugrunde gelegte Ordnungssystem und die damit verbundene Unterteilung transparent zu machen. Schließlich muss der Schätzende seine Erfahrung in Bezug auf das Thema sichtbar machen. Während die genaue Lösung einer Frage eine schlichte Zahl sein kann, bei der sich der Antwortgebende auf implizit oder explizit fixierte Verfahren und auf deren allgemeine Akzeptanz verlassen kann, müssen Schätzende einen akzeptierbaren, im besten Fall evidenten Begründungszusammenhang herstellen und sich Fragen ihrer Zuhörer stellen.
Bei Skalierungsfragen ist der Prozess ähnlich gelagert, weil hier ja geschätzt werden soll, wo etwas in der angebotenen Skala einzuordnen ist. In Beratungszusammenhängen geht es häufig um Skalen von 1 bis 10. Dazu ein kleines Gedankenexperiment:
Wie erfolgreich wird die nächste Woche?
Angenommen, im wöchentlichen Team-Meeting werden Sie gebeten, die Antwort auf die folgende Frage zunächst verdeckt zu notieren und dann offenzulegen: »Was glauben Sie – auf einer Skala von 1 bis 10 –, wie erfolgreich die nächste Woche sein wird? Wobei 1 den schlechtesten Wert und 10 den besten Wert darstellt.«
Was geschieht nun, wenn Sie diese Frage beantworten und die Antwort im Team reflektieren:
1. Sie beziehen mit Ihrer Antwort eine Position, treffen also eine Entscheidung.
2. Damit machen Sie einen Unterschied. Genau genommen machen Sie sogar zehn Unterscheidungen, denn mit der Entscheidung für einen Wert entscheiden Sie sich gegen neun bestehende Alternativen.
3. Angenommen, Ihre Einschätzung ist »7«. Dann zieht das die Frage nach sich: Was unterscheidet Ihre »7« z. B. von einer »6«. Daraufhin befragt, stellt sich schnell heraus, dass Sie für die Entscheidung, »7« zu wählen, gute Gründe haben.
4. Sie erklären vermutlich auch, wie Sie die Frage verstanden haben und was Sie mit dieser Einschätzung meinen. »7« könnte aus Ihrer Sicht mit überdurchschnittlichen Erwartungen verbunden sein, denn das macht eine Woche besser als die »5«, die Sie für eine durchschnittliche Woche ansetzen würden.
5. Gleichzeitig berichten Sie vielleicht von Erfahrungen aus dem letzten Monat, in dem eine ähnliche Ausgangssituation aus Ihrer Sicht ebenfalls zu einer »7« geführt hat.
6. Danach befragt, warum Sie sich nicht für die »8« oder »9« entschieden haben, berichten Sie unter Umständen darüber, welches Wochenergebnis Sie damit verbinden würden und was Ihnen fehlt bzw. welche Unterstützung Sie benötigen, um dieses Ergebnis zu erreichen.
7. Das Gespräch zu Ihrer Einschätzung wird dann noch ergänzt, wenn die Kollegen und Kolleginnen ihre Einschätzung offenlegen und ebenfalls mit Gründen belegen. Hier zeigen sich dann noch einmal neue Unterschiede und Perspektiven, und es entsteht ein lebhafter Austausch, bei dem sich die Aspekte 1 bis 6 vervielfachen.
Probieren Sie es doch einmal zu einer aktuellen Fragestellung für sich oder mit Ihrem Team aus. Der Informationsgewinn kann erstaunlich und die Diskussion über die unterschiedlichen Perspektiven bereichernd sein.
Hinweis zur Durchführung: Vorbereitete Abstimmungskarten erleichtern die Abstimmung. Wichtig ist, dass die Teilnehmer sich nicht darüber austauschen, wie sie abstimmen werden, sondern jeder für sich seine Position auswählt.
Zum einen vermittelt die Abstimmung einen Eindruck davon, wie eine Gruppe ein bestimmtes Thema einschätzt. Es zeigt sich, ob sie eher negativ oder positiv zum Thema steht. Und es wird deutlich, wie homogen die Einschätzungen sind oder wie weit sie auseinanderliegen.
Zum anderen erzeugt die Reflexionsphase eine ganze Bandbreite an nützlichen Informationen. Durch das Gespräch über die jeweiligen Bewertungen werden individuelles Verständnis, Konsens und Dissens herausgearbeitet und schließlich Diskussions- bzw. Handlungsbedarfe sichtbar. Insgesamt ergibt sich ein vergemeinschaftetes Bild der unterschiedlichen und der gemeinsamen Positionen. Aus methodischer Sicht ist also gerade die Reflexionsphase besonders ergiebig.
Zum Weiterdenken
Übrigens, im agilen Projektmanagement, wie z. B. im Scrum, nutzt man eine ähnliche Methode, um im Team die Größe von Arbeitspaketen abzuschätzen. Während des sogenannten »Planning Poker« stimmen die Projektmitglieder über die einzelnen Arbeitspakete ab, begründen in Reflexionsphasen ihre Einschätzung und nähern schließlich ihre Positionen an (Gloger, 2016).
Statt einer Skala von 1 bis 10 wird eine »unreine« Fibonacci-Reihe verwendet, damit wird die Tatsache berücksichtigt, dass mit der Größe des Arbeitspakets auch mögliche Abweichungen zunehmen. Werte der unreinen Fibonacci-Reihe, wie sie im Scrum verwendet werden:
0 – 1 – 2 – 3 – 5 – 8 – 13 – 20 – 40 –100
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Arbeit mit Skalierungsfragen viele Chancen eröffnet, Themen zu klären und nächste Schritte zu (er-)finden. Denn dabei wird bewusst der Druck genommen, etwas genau benennen zu müssen. Die konkreten Werte des »Einschätzungs-Pokers« sind weniger wichtig, vielmehr stehen einerseits die individuelle Reflexion und andererseits die gemeinsame Reflexionsphase im Mittelpunkt.
Quelle: Dieser Abschnitt ist entnommen aus:
„50 systemische Demonstrationen„