Selbstreferenz – Ignoranz als Erfolgsrezept

Es ist gerade in diesen Tagen häufig zu beobachten: Ignoranz fällt auf. Im gesellschaftlichen, politischen und  täglichen Miteinander meist unangenehm. Wenn Mechanismen greifen, die in einem (sozialen) System nur auf sich selbst bezugnehmen und die Welt draußen ignorieren. Eine andere Seite der Medaille zeigt, dass diese Ignoranz wesentlich zum Erhalt des Systems und seines „Zwecks“ dient. Ist Ignoranz der Preis der Freiheit?
Wie ist das also mit der Selbstreferenz?

Vermutlich kennen Sie das:
Es gibt Situationen, da macht Ihr Smartphone, so könnte man meinen, was es will. Wenn Sie beispielsweise von einer Auslandsreise zurückkommen und sich Ihr Handy nicht mehr mit dem lokalen Netzanbieter verbinden lässt oder wenn sich eine App nicht mehr stoppen lässt. Das Herausnehmen und Wiedereinsetzen des Akkus hat sich, sofern möglich, in vielen Fällen als wirkungsvolle Maßnahme bewährt. Diese Ignoranz des Geräts gegenüber seiner veränderten Umwelt ist sicher kein Erfolgsrezept für Smartphones, gibt aber dennoch einen ersten Einblick in die Themen, um die es hier gehen soll, nämlich um operative Geschlossenheit, strukturelle Kopplung und um Selbstreferenz.

Der erfolgreiche Brandmelder
Wie würden Sie die Selbstreferenz eines Brandmelders beurteilen? Und was macht einen Brandmelder »erfolgreich«?

Zum Weiterdenken
Selbstreferenz oder Systemreferenz bezeichnen die beobachteten Operationen eines definierten Systems, die der Reproduktion des Systems dienen und sich auf das System selbst beziehen. Nicht-triviale Systeme und insbesondere lebende Systeme  sind selbstreferenziell, sie gelten als operativ geschlossene Systeme. Auch wenn die Operationen eines nicht- trivialen Systems in sich geschlossen sind, so wirken sich die Bedingungen seiner Umwelt auf das System aus. Systeme sind an ihre Umwelt strukturell gekoppelt.

Mit den beiden Grundbegriffen »operative Geschlossenheit« und »strukturelle Kopplung« bezeichnet die Systemtheorie wesentliche Eigenschaften von sozialen und lebenden Systemen. Sie gewährleisten die Abgrenzung zur Umwelt und beschreiben die Abhängigkeit von der Umwelt. Diese beiden Eigenschaften bilden die Voraussetzungen für die Selbstreferenz von Systemen.

Zum Beispiel operiert unser zentrales Nervensystem geschlossen: Gedanken erzeugen Gedanken. Aber die Funktionsweise des Nervensystems ist strukturell z. B. an die Durchblutung gekoppelt. Zur Vertiefung: Luhmann, 1987, besonders S. 57 ff.

In sozialen Systemen erzeugen Kommunikationen operative Geschlossenheit und gleichzeitig Anschlussfähigkeit für die nächste Operation. Man könnte sagen, sie sind bezogen auf ihre internen Operationen ignorant.

Beispiele
Operative Geschlossenheit von Personen wird wunderbar demonstriert in der Figur des Forrest Gump in dem gleichnamigen Kinofilm. Die aus der Perspektive der Hauptfigur dargestellten geschichtlichen Ereignisse wirken wie Ereignisse einer Umwelt, an die das Leben des Forrest Gump strukturell gekoppelt ist. Aber seine Gedanken, im Selbstgespräch zur Sprache gebracht, folgen eigenen Gesetzmäßigkeiten in einer operativ geschlossenen Gedankenwelt, die für sich steht. (siehe z. B. YouTube: Forrest Gump)

Der Text eines Volkslieds aus dem 18. Jahrhundert steht in besonderem Einklang mit dieser systemischen Perspektive:

Die Gedanken sind frei:

Die Gedanken sind frei,
wer kann sie erraten,
sie fliehen vorbei,
wie nächtliche Schatten.
Kein Mensch kann sie wissen,
kein Jäger erschießen.
Es bleibet dabei:
Die Gedanken sind frei.

Operative Geschlossenheit von sozialen Systemen ist leicht nachvollziehbar und auch in Alltagssituationen gut beobachtbar, wenn man beispielsweise an die Kommunikationsmuster in Familien, Schulen oder während eines Gerichtsverfahrens denkt. Auch die Kommunikationsmuster einer Konferenz, wie die eines G20-Gipfels zeigen, wie operative Geschlossenheit funktioniert. Dabei werden übrigens auch die strukturellen Kopplungen an verschiedene Umwelten –

Wirtschaftssystem, Interessengruppen, Polizei oder Demonstranten – deutlich sichtbar.

Für die Praxis
Die Prinzipien des Brandmelders: operativ geschlossen und strukturell gekoppelt

Das Beispiel eines konventionellen Brandmelders, so wie er häufig in Privathaushalten verwendet wird, veranschaulicht die Prinzipien der operativen Geschlossenheit und der strukturellen Kopplung:

In Bezug auf seine Umwelt ist der Brandmelder strukturell gekoppelt, z. B. an die Zimmerdecke oder an eine Stromversorgung oder ein WLAN.

Im Hinblick auf seine Kernoperation funktioniert er operativ geschlossen: Wenn der im Brandmelder verbaute Sensor eine Veränderung des im Brandmelder erzeugten Infrarotstrahls wahrnimmt, dann löst der Brandmelder Alarm aus. Der Alarm wird auch ausgelöst, wenn es nicht brennt. Denn für den Brandmelder ist nur »entscheidend«, dass der selbst erzeugte Infrarotstrahl gebrochen wird und somit nicht, oder verändert, beim Sensor ankommt.

Das in sich geschlossen operierende System hat in der Folge keinen Einfluss mehr darauf, was geschieht, wenn es den Alarm ausgelöst hat: Eine Bewohnerin könnte den Brand sofort löschen, ein Nachbar könnte einen Großeinsatz der Feuerwehr auslösen oder ein Hotelgast macht seine Zigarette wieder aus und schaltet den Alarm aus. Oder die Stromversorgung zum Brandmelder wird schlicht unterbrochen, damit wird eine essenzielle strukturelle Kopplung aufgehoben.

Das System »Brandmelder« reagiert auf den Rauch mit einer in sich geschlossenen Operation, löst den Alarm aus und hat dann auf das weitere Geschehen keinen Einfluss mehr.

Wenn Sie mit der Idee der operativen Geschlossenheit und der Perspektive der Selbstreferenz nun Ihr Arbeitsumfeld betrachten – welche selbstreferenziellen Operationen/Kommunikationen nehmen Sie dann wahr? Folgende Unterscheidungen können helfen, die operative Geschlossenheit einer Arbeitsgruppe sichtbar zu machen:

  • Wie viel Zeit verbringen die Mitglieder der Arbeitsgruppe damit, gruppeninterne Themen zu klären?
  • Werden interne Aufgaben geklärt, entschieden und erledigt oder werden sie immer wieder auf die Tagesordnung gesetzt, weil sie nicht geklärt werden können?
  • Inwiefern weiß jedes Mitglied, was in welchem Fall zu tun ist?
  • Wann wurden die Mitglieder der Arbeitsgruppe das letzte Mal von einer Entwicklung überrascht? Wie konnte das geschehen?
  • Was wissen andere Arbeitsgruppen über die Arbeit dieser Gruppe?
  • Wenn Außenstehende an einem Team-Meeting teilnehmen, wie gut können diese dann ihren Fachgesprächen folgen?
  • In welchen anderen Konstellationen arbeiten die Mitglieder Ihrer Arbeitsgruppe parallel?
  • Wie wird die Arbeitsgruppe von anderen (Vorstand, interne und externe Kunden und Lieferanten, neuen Mitarbeiter) wahrgenommen? Und was wissen Sie bzw. die Arbeitsgruppe darüber?
  • Was versteht die Arbeitsgruppe unter Erfolg?

Die Befunde zur operativen Geschlossenheit sind oft mehrdeutig

Der Befund Ihrer Reflexion ist unter Umständen verstörend und vermutlich mehrdeutig. Denn vielleicht stellen Sie fest, dass Ihr Team, Sie eingeschlossen, fast ausschließlich mit internen Themen beschäftigt ist, aber gerade durch diese Fokussierung im gegebenen Umfeld sehr erfolgreich agiert. Gleichzeitig stellen Sie fest, dass Sie wenig Kenntnisse darüber haben, was in anderen Bereichen vorgeht oder wie sich z. B. Ihre Kunden entwickeln. Und Sie müssen unter Umständen einräumen, dass die Arbeitsgruppe nur in wenigen Fällen auf Impulse aus der Umwelt reagiert. Diese müssen schon sehr massiv sein, vielleicht Gesetzesänderungen oder deutliche Budgetkürzungen, damit eine Reaktion erfolgt. In der Folge gestalten sich Veränderungsprozesse schwierig.

Natürlich ist auch ein anderer, gegenläufiger Befund möglich: Denn selbst wenn die Antworten auf die genannten Fragen eindeutig sein können, ist deren Bewertung prinzipiell mehrdeutig. »Nein, uns kann nichts überraschen«, könnte beispielsweise die Antwort auf die Frage nach Überraschungen lauten. Bedeutet das nun, dass die Operationen der Arbeitsgruppe außerordentlich leistungsfähig sind, sodass »Überraschungen« sehr schnell und erfolgreich verarbeitet werden? Oder bedeutet das, dass die operative Schließung der Arbeitsgruppe dazu führt, dass sie keine Überraschungen wahrnehmen kann?

Den Brandmelder kann ja auch nichts überraschen!

Fazit

Selbstreferenz sorgt dafür, dass Systeme, insbesondere soziale Systeme funktionieren. Sie macht soziale Systeme in besonderer Weise erfolgreich. Die Herausforderung besteht darin, zu beobachten, wie Veränderungen der Umwelt, die als Impulse, Irritationen oder Interventionen wahrgenommen werden können, in systeminterne Operationen umgesetzt werden – um dann aus einer wertschätzenden, kritischen Perspektive heraus zu bewerten, inwiefern diese Operationsmuster zuverlässig und zweckmäßig erscheinen.

Wie weit man mit selbstreferenziellen Operationen kommen kann, demonstriert die Figur des Sheldon Cooper in der Serie »The Big Bang Theory«. Seine Selbstbezogenheit steht im Mittelpunkt jeder seiner Kommunikationen und seine gelegentlichen Versuche, sie zu überwinden, sind stets zum Scheitern verurteilt. (Siehe z. B. YouTube: Sheldon Cooper)

Quelle: Dieser Abschnitt ist entnommen aus:
50 systemische Demonstrationen