Sechs Entscheidungsfälle zur Übung
- Sie haben im November dieses Jahres noch ein paar Urlaubstage übrig und das Angebot, ein paar Tage mit Ihrem Partner auf Teneriffa oder auf Gran Canaria zu verbringen. Wie entscheiden Sie sich?
- Sie sind zu einem wichtigen Geschäftstermin verabredet und müssen noch ein Accessoire, z.B. eine Krawatte, für diesen Anlass kaufen. Wie treffen Sie die Entscheidung für etwas Passendes?
- Sie haben in der Rolle als Marketing-Manager die Möglichkeit, in die Geschäftsführung aufzusteigen. Die neue Aufgabe bedeutet ein etwas erhöhtes Einkommen und weitere Aufstiegsmöglichkeiten. Sie bedeutet aber auch, dass Sie Ihr Zeitinvestment über das schon hohe Maß weiter erhöhen müssen und die Zeit für Familie, Freunde und Freizeitgestaltung reduzieren müssen. Darüber hinaus ist die neue Aufgabe mit einem erheblichen Reiseaufwand verbunden. Wie wägen Sie Vor- und Nachteile ab: Geld oder Leben?
- Auf einer zweispurigen Straße, im dichten, aber flüssigen Stadtverkehr rollt ein Einkaufswagen vor Ihrem Auto auf die Straße. Angenommen, Sie haben alle Informationen zur Verfügung, um richtig zu reagieren: Auf der Spur links neben Ihnen fährt ein anderes Fahrzeug. Der Bremsweg reicht auch aus. Und die Fahrzeuge hinter Ihnen halten einen ausreichenden Abstand. Bremsen Sie oder weichen Sie schnell auf die linke Spur aus?
- Angenommen, Sie haben zur Erfüllung Ihrer beruflichen Herausforderungen ausreichend oder, sagen wir, endlose Ressourcen zur Verfügung. Welche Entscheidungen würden Sie treffen, um erfolgreich zu agieren?
- Waldspaziergang: Sie wandern mit einer kleinen Gruppe und kommen an eine Weggabelung. Für welchen Weg entscheiden Sie sich und wie entscheiden Sie? Und wie kommt es, dass Sie schließlich doch den anderen Weg gehen?
Natürlich kann man Entscheidungen auch grundsätzlich aus einer systemisch-theoretischen Perspektive beleuchten. Das tun wir an anderer Stelle.
Zunächst soll es aber um den oft wenig behandelten Zusammenhang von Entscheidung und Abschied gehen, der schon im Wort Entscheidung selbst sichtbar ist.
Entscheidung: eine »Begriffswolke«
Hier eine Liste von ausgewählten, verwandten Begriffen. Nehmen Sie sich zur freien Assoziation ein wenig Zeit und lassen Sie die Begriffe auf sich wirken, denn sie verweisen über die bloße »Entscheidung« hinaus und bilden einen Anstoß für erweiterte Perspektiven auf das Phänomen. Ob Sie das tun, ist natürlich Ihre Entscheidung!

Entscheidungen und Trauerarbeit – ein Vorschlag
»The difficulty lies, not in the new ideas, but in escaping from the old ones.«
John Maynard Keynes (1936, S. VII)
Die Problematik, die Keynes anspricht, nämlich die Schwierigkeit, den alten Ideen zu entkommen, ist im Wort »Entscheidung« verankert:
Der Wortstamm von »entscheiden« – »scheiden« – wird bereits im Mittelhochdeutschen verwendet. Abgeleitet aus dem althochdeutschen »skeidan« bedeutete es »teilen«, »trennen« und »beilegen«, aber auch »beenden«. Das Wort »Entscheidung« ist untrennbar mit »Scheidung« verbunden. Es deutet direkt darauf hin, dass jede Entscheidung auch einen Abschied in sich trägt.
Richtungsweisende, mithin schwerwiegende Entscheidungen, die von sozialen Systeme konstruiert werden, erfordern einen Prozess der Verabschiedung, der eigentlich schon während der Entscheidungsfindung beginnt. Insbesondere Organisationen vernachlässigen diesen Prozess leicht. Damit dieser Verarbeitungsprozess sichtbarer und besser handhabbar wird, schlagen wir vor – im Umfeld von schwerwiegenden Entscheidungen und Veränderungen – Aufgaben, die aus der Trauerarbeit bekannt sind, zu beachten. Damit können die Folgen von Entscheidungen, so die Idee, deutlich besser verarbeitet werden.
Der Trauerforscher William Worden nennt vier Entwicklungsaufgaben beim Verlust etwa eines geliebten Menschen, die hier in den Kontext von Entscheidungen gesetzt werden (Worden, 1982, dt. 2017):
- Den Verlust als Realität anerkennen. – Wenn man A tut, kann man nicht (mehr) B tun. Für Verantwortliche, Beteiligte und Betroffene heißt das, Einsicht in die Notwendigkeit einer Entscheidung zu gewinnen und zu verstehen, dass eine neue Realitätskonstruktion die bisher zweckmäßige ablöst bzw. ablösen wird: Man kann eben nur den einen Weg gehen.
- Den Schmerz der Trauer erleben und aushalten. – Entscheidungen wecken Emotionen, die auszuhalten und zu bewältigen sind. Schmerz und Trauer sind in Organisationen in der Regel nicht vorgesehene Emotionen. Sie werden nicht gesehen bzw. nur als emotionale Reaktion Einzelner abgetan. Wenn Entscheidungen im wahrsten Sinne des Wortes einschneidende Veränderungen mit sich bringen und sich damit die Rahmenbedingungen verändern oder wenn das soziale System sein Fundament verändert und auf der Basis von neuen oder neu interpretierten Entscheidungsprämissen ungewohnte Entscheidungen trifft, dann ändert sich aus der Sicht der Beteiligten alles. Die Koordinaten für ganze Bereiche, Abteilungen und Teams und schließlich für jedes Individuum werden neu gesetzt, die alten Orientierungsmarken werden neu interpretiert oder gelten nicht mehr als zweckmäßig. Gleichzeitig wird die Kehrseite jeder Entscheidung – die Seite, gegen die man sich entschieden hat – durch die Trauer sichtbar. Sie deutet auf ungenutzte Möglichkeiten und Potenziale, die »liegen gelassen« werden. Trauer bezeichnet, was durch die Entscheidung ausgeschlossen und nicht selten tabuisiert wird. Trauer und der verbundene Schmerz werden, je nach Rolle und Perspektive, mehr oder weniger deutlich erlebt und verarbeitet. Dies zu akzeptieren, den Raum dafür bereitzustellen und sie schließlich auszuhalten, ist für die Individuen, die sozialen Systeme einer Organisation und insbesondere für das Management eine relevante Aufgabe. Denn dieser Prozess aktiviert die Resilienz des Einzelnen und der betroffenen Organisation.
- Anpassung an eine Welt, in der der verstorbene Mensch fehlt. – Von der Entscheidung zur Entscheidungsprämisse, es entsteht ein neues Fundament. In Bezug auf die Entscheidung geht es darum, sich (immer wieder) klar zu machen, warum sie getroffen wurde und die Entscheidungsprämisse voll und sozusagen aktiv zu akzeptieren: Entscheidungen sind auf die Sicherung der Zukunft ausgerichtet und basieren auf grundlegenden, vorausgegangenen Entscheidungen. Es ist kein Fall ins Bodenlose, sondern es entsteht ein neues Fundament.
Beispiel: Eine Bergsteigerin, die in der Steilwand zum Gipfel klettert, hat sich entschieden, den sicheren Boden zu verlassen. Diese Entscheidung ist unumkehrbar, sie kann diese Entscheidung bedauern, aber der sichere Boden unter den Füßen ist verloren. Der Fokus der Aufmerksamkeit ist auf die Zukunft gerichtet, denn es geht darum, mit sicherem Griff, mit Seilen, Haken und Ösen weiter zu klettern, um sich bestmöglich an die aktuellen Gegebenheiten anzupassen. Die nun folgenden Entscheidungen entkoppeln sich zwar von der Grundentscheidung »den sicheren Boden zu verlassen«, aber sie hängen entscheidend von der Qualität der Grundentscheidung ab. Wurde beispielsweise die Ausrüstung überprüft, das aufkommende Wetter berücksichtigt und die Fitness beachtet? Und selbst wenn etwas fehlt, dann lässt sich das nicht ändern, dann geht es um Anpassung an eine veränderte Situation. - Ablösung vom Verstorbenen und Offenheit für neue Bindungen. – Die neue Konstruktion ist stabil und neue Perspektiven entwickeln sich, losgelöst von den ersten Entscheidungen, aber auf ihnen stehend.
Die neuen Entscheidungen führen zu weiteren Entscheidungen und entfernen sich immer weiter von der vorhergehenden Grundentscheidung, lösen sich schließlich vollständig ab, erscheinen unabhängig. Im Bild des Kletterns: Schon nach wenigen Höhenmetern ist nur der nächste Schritt relevant für das Vorwärtskommen und für die eigene Sicherheit, der Einstieg verliert Relevanz und wird auch bald weitgehend vergessen. Um diese Aufgabe in Organisationen zu bewältigen, verändern Organisationen ihre Vergangenheit bzw. interpretieren sie neu. Sätze wie: »Früher haben wir das aber anders gemacht, da haben wir …« oder »Das haben wir schon hundertmal versucht …« verlieren ihre Bedeutung für den nächsten Schritt, denn früher, um im Bild zu bleiben, »hatte man ja festen Boden unter den Füßen«, war also in einer ganz anderen Situation.
Entscheidungen tragen immer einen Abschied in sich, der, wenn ausreichend beachtet, die Umsetzung von Entscheidungen erleichtert und vorantreibt.
Für die Praxis
Hier unsere Auflösungsideen zu den praktischen sechs Entscheidungsübungen
- Die Entscheidung im Fall 1 scheint angenehm und im Zweifelsfall einfach. Sie haben sich schnell entschieden, und falls Sie gar nicht wissen, wie Sie entscheiden, dann lassen Sie das Universum entscheiden und werfen eine Münze. Bei genauerer Betrachtung kann sich diese vermeintlich einfache Fragestellung aber auch als Entscheidungsfalle entpuppen. Denn Sie wollen vielleicht weder nach Teneriffa noch nach Gran Canaria, Ihnen schwebt vielmehr vor, die Polarlichter in Bergen zu beobachten. Die Betrachtung mit dem Tetralemma könnte die richtige Entscheidung bringen. Hier gibt es übrigens zunächst keinen Grund zu trauern, es sei denn, man bemerkt die Entscheidungsfalle zu spät und entscheidet sich für eine der beiden angebotenen Optionen.
- Die Frage der Krawatte hat sicherlich eine gewisse Relevanz, aber im Vergleich zum anstehenden Geschäftstermin gäbe es sicher wichtigere Themen, die Ihre Energie und Ihre Zeit benötigten. Es geht eigentlich darum, Ihr Ziel zu kennen und im Auge zu behalten, nur so sind zweckorientierte Entscheidungen möglich. Im konkreten Fall sollte man die zur Verfügung stehenden Ressourcen berücksichtigen und Entscheidungsprozesse mit Bezug zu den geplanten Gesprächsthemen priorisieren. Dieser Einsicht folgend, gilt es, dieser Entscheidung möglichst wenig Raum und Zeit einzuräumen, sie also nicht zu treffen und den Termin gegebenenfalls ohne Krawatte wahrzunehmen oder die Entscheidung, wenn möglich, zu delegieren.
- Die Entscheidungskonstruktion im Fall 3 erfordert die Bereitschaft, auf die eine oder andere Option zu verzichten. Sie fordert den Abschied von einer der beiden Option ein und in der Folge eine entsprechende Trauerarbeit. Wie sieht es nun mit der Liste von Vor- und Nachteilen aus, falls Sie eine erstellt haben? Wir gehen davon aus, dass Sie die Liste nicht erstellt haben bzw. dass Ihnen die Liste bei der Entscheidungsfindung nicht weitergeholfen hat. Das kann natürlich an dem hypothetischen Charakter des Falls liegen, aber selbst wenn Sie die Fragestellung im Hinblick auf Vor- und Nachteile untersuchen, wird es Ihnen schwerfallen, zu einer Entscheidung zu kommen. Wodurch wird diese Schwierigkeit erzeugt? Die Alternativen sind eigentlich schon sehr klar, die Liste der Vor- und Nachteile führt allenfalls zu einer Konkretisierung, die diese »vor Augen führt« und spürbar macht. Aber die Frage, die hinter der Entscheidungskonstruktion steht, ist die Frage nach dem Zweck und nach dem Ziel, von dem man glaubt, dass man es erreichen will, kann oder muss. Ist diese Frage beantwortet, dann ist die Entscheidung gefallen, dann geht es um das Wie, um Mut und Entschlossenheit und darum Abschied von der anderen Option zu nehmen.
- Wahrscheinlich haben Sie sich bei Fall 4 gefragt: Was soll die Frage, der Fall ist doch klar! Natürlich würden Sie bremsen. Und genau so ist es. Hier gibt es im engeren Sinn nichts zu entscheiden, denn das Ziel, nämlich einen Unfall zu verhindern, ist klar. Es stehen alle Informationen zu wirkungslosen bzw. wirkungsvollen Alternativen zur Verfügung. Die Entscheidung ist folgerichtig und kann mit 100-prozentiger Sicherheit getroffen werden. Im engeren Sinne ist das eigentlich keine Entscheidung, und man kann sich leicht vorstellen, dass auch ein autonom fahrendes Auto den Bremsvorgang auslösen wird. Oder was meinen Sie?
- Zugegeben, das Szenario im Fall 5 wirkt unrealistisch. Aber es verdeutlicht, dass letztendlich der verfolgte Zweck, das definierte Ziel, die entwickelte Vision oder auch der konstruierte Sinn im sozialen System Kriterien für Entscheidungen determinieren – und eben nicht nur die verfügbaren Ressourcen. Will man Entscheidungen erreichen, sie selbst treffen oder dass andere sie im Sinne z. B. eines Organisationsziels treffen, dann muss den Mitgliedern eines sozialen Systems der »Zweck« bekannt und bewusst sein.
- Auch an der Weggabelung geht es zunächst erneut um die Entwicklung von Entscheidungskriterien: Also welchen Zweck verfolgt der Spaziergang und welcher Weg verspricht eher, die sich aus dem Zweck ergebenden Kriterien zu erfüllen? Es geht darum, Sicherheit zu gewinnen, um handeln zu können – wissend, dass es auch anders sein kann und der »nicht gewählte« Weg der zweckmäßigere sein kann. Stehen nur sehr wenige Informationen zur Verfügung, dann erscheint die Wahl des Weges zufällig, aber der nächste Schritt erfordert in jedem Fall eine Entscheidung, die genügend Sicherheit vermittelt, damit die Beteiligten handlungsfähig bleiben. Wie generiert das soziale System, hier die Gruppe der Spaziergänger, nun diese Sicherheit? Zuvor getroffene, implizite oder explizite Vereinbarungen (ebenfalls Entscheidungen) der Gruppe bilden die Basis dafür. Wurde z. B. ein Reiseleiter definiert oder hat die Gruppe schon in der Vergangenheit gemeinsam Entscheidungen getroffen oder folgt die Gruppe den Entscheidungen von wenigen erfahrenen Spaziergängern? Das Fundament bilden dabei immer Kommunikationen, die Handlungskompetenz ausloten und Handlungsfähigkeiten herstellen. Es sind mehr oder weniger sichtbare Verhandlungen. Die Wahl des Weges bleibt beliebig, bis dieser Aushandlungsprozess abgeschlossen ist – auch wenn das gestaltungsstarke Persönlichkeiten in der Gruppe anders sehen mögen. Und zu ergänzen ist: Auch hier geht es dann auch darum, Abschied zu nehmen. Schließlich könnte der nicht gewählte Weg viel schöner, kürzer oder unterhaltsamer sein. Mit dieser Möglichkeit müssen die Spaziergänger rechnen und sich gleichzeitig von ihr verabschieden.