Thorsten Schlaak & Manfred Schwarz
Der Begriff Systemrelevanz hat das Zeug zum Wort des Jahres. Doch gibt es eigentlich auch System-un-relevanz?
Um zu begreifen, was in einem System relevant ist, lohnt sich ein Wechsel des Standorts: auf eine Metaebene. Anders gesagt und gefragt:
Systemische Perspektive – was ist das?
Unser Beitrag ist ein Perspektivwechsel-Hebewerkzeug.
Diese kleine Aufgabe soll erste Hinweise liefern
Man nehme:
Die Aufgabe:
– Schneiden Sie in Ihrem Pappkarton ein gleichschenkliges Dreieck (Breite und Höhe 5 cm), ein Quadrat (Seite 5 cm) und einen Kreis (Durchmesser 5 cm) als Öffnungen hinein, wie Abbildung 1 zeigt.
– Kreieren Sie aus dem Würfel eine dreidimensionale Figur, die durch alle drei hier gezeigten Öffnungen bzw. Formen geschoben werden kann und sie dabei jeweils komplett ausfüllt, also überall berührt.

Abbildung 1: Die drei Öffnungen, die der Körper beim Hindurchschieben ausfüllen muss
Haben Sie die Aufgabe lösen können?
Schon die Aufgabe – und natürlich auch deren Lösung – zeigt, dass systemisches Denken nicht nur von der Art und Weise des Sehens abhängt, sondern auch von der Offenheit für möglichst viele Perspektiven. Denn die Lösung ist ja ein dreidimensionales Objekt, das je nach Sichtweise sehr unterschiedlich aussieht.
Wir haben – aus unserer Erfahrung und Sichtweise – einige Kerneinsichten und -kompetenzen identifiziert, die den Einstieg ins systemische Denken und Handeln bedingen und erleichtern:
Jeder Mensch verhält sich je nach Situation anders
Niemand ist grundsätzlich deprimiert oder heiter, über- oder unterlegen usw., vielmehr verhält er sich in bestimmten Situationen oder bestimmten Menschen gegenüber so.
Beispielsweise kann sich ein und derselbe Mann seinen Freunden gegenüber angepasst und freundlich geben, während er sich gegenüber seiner Freundin eher respektlos und streitlustig zeigt. Personen haben sehr viele verschiedene Möglichkeiten, in einer bestimmten Situation mal eher dieses und mal eher jenes Verhalten zu zeigen – u. a. abhängig vom jeweiligen Gegenüber. Systemiker sehen das Verhalten eines Menschen somit immer in einem zeitlich begrenzten Zusammenhang.
Jeder hat seine eigene Wirklichkeit
»Die Umwelt, die wir wahrnehmen, ist unsere Erfindung.« Diese Erkenntnis stammt von dem Physiker und Systemiker Heinz von Foerster (1997, S. 26). Jeder erlebt Wirklichkeit anders. Er meinte damit, dass wir die Wirklichkeit nicht passiv aufnehmen. Sondern: Wir bauen sie vor unserem persönlichen Erfahrungshintergrund fortwährend neu auf. Wir konstruieren sie.
Aufgrund der unterschiedlichen Lebenserfahrungen entwickelt jeder eine andere Sichtweise und reagiert in der gleichen Situation mit anderen Gefühlen. Der Konstruktivismus geht davon aus, dass der Mensch keinen unmittelbaren Zugriff auf die objektive Realität hat. So einigen sich vielmehr Individuen und soziale Systeme auf eine bestimmte Beschreibung der Welt. Und: Daraus entsteht dann das, was wir unsere Realität nennen.
Dieses Phänomen fällt uns besonders in Ländern auf, die eine andere Kultur haben. In Japan beispielsweise muss der Besucher beim Betreten der Wohnung seine Schuhe ausziehen – dies ist dort höfliche Sitte: Die Schuhe werden zudem nicht achtlos abgestellt, sondern zeigen mit den Spitzen zur Eingangstür. Japaner haben sich auf diese Form in ihrem sozialen System geeinigt. Eine Missachtung gilt in dieser – konstruierten – Realität als grobe Unhöflichkeit.
Das mag uns übertrieben erscheinen. In der kulturellen Landschaft der Japaner hat es aber seinen Platz. Es ergibt für sie Sinn. Im systemischen Denken heißt das z. B.: Beschreibungen und Wahrnehmungen werden immer wieder hinterfragt. In diesem Fall also: Was bedeutet für den Japaner dieses Ritual? Was steckt dahinter?
Hier hilft die Metapher der »inneren Landkarte«. Damit gemeint ist das Bild, das sich jeder von einem System, einer Situation oder einem Raum macht, um diese Situation oder den Raum besser zu verstehen. Solch eine Landkarte ist allerdings nicht die reale Landschaft. Die Landkarte vereinfacht die Landschaft immer.
Und, wie gesagt: Jeder hat seine eigene innere Landkarte. Genauso wie jedes soziale System – denken Sie z. B. an die Vorstellungen Ihres Teams: Was genau bedeutet Kundenzufriedenheit oder Qualität für Ihr Team?
Verhalten erfüllt einen Zweck
Systemiker verzichten darauf, Diagnosen zu erstellen: Wir sprechen lieber von Verhalten und daraus resultierenden Symptomen. Diese Symptome werden aus systemischer Sicht als Lösungsversuche interpretiert. Denn sie erscheinen einem Menschen in seiner momentanen Situation – bewusst oder unbewusst – als die beste Möglichkeit, seine aktuelle Lebenslage zu meistern.
Symptome verschaffen in der Regel jedoch nur vorübergehend Abhilfe. Langfristig können sie sogar zum nächsten Problem werden. Wichtig ist daher, zu beleuchten, wozu ein Verhalten dient und welchen Zweck man damit erreichen will oder kann: Häufig existieren Lösungen, die anders, wertvoller und dauerhafter sind.
Beispiel: Ein Familienvater von zwei jugendlichen Kindern erlebt zu Hause viel Stress mit den rebellierenden Teenagern. Als Folge davon weicht er aus und bleibt immer länger im Büro. Vielleicht erlebt er sich zu Hause eher hilflos: Er hat keine Idee, wie er mit den Kindern, mit dem Stress umgehen oder sogar eine Besserung bewirken kann. Außerdem kosten ihn die nicht endenden Diskussionen mit seinen Kindern viel Kraft. Sein längeres Arbeiten führt nun aber dazu, dass seine Frau sich alleingelassen fühlt und vielleicht wütend reagiert. Die Folge: Der Mann bleibt noch länger im Büro.
Das Symptom heißt hier »Rückzug«. Es bringt dem Vater aber nur kurzfristig eine Lösung: Er tauscht gewissermaßen die Probleme mit seinen Kindern gegen eines mit seiner Frau ein. Interessant wäre es für den Mann, darauf zu schauen, mit welchem Verhalten er mehr erreichen könnte. Das Beispiel zeigt aber: »Verhalten macht Sinn«. Das heißt, egal wie sich jemand verhält, es hat immer einen Grund, auch wenn man diesen von außen betrachtet nicht auf den ersten Blick erkennen kann oder nicht für zielführend hält.
Verhalten bedingt sich gegenseitig
Wir existieren nicht im luftleeren Raum, sondern bilden mit anderen verschiedene soziale Systeme wie Kollegen, Familie, Freundeskreis usw. Wie lässt sich das erfassen? Beim systemischen Denken geht es darum, neugierig auf die Welt der anderen zu sein. Dies erfordert, sich auf andere einzulassen und zugleich die eigenen Annahmen oder inneren Bilder loszulassen. Das macht den Weg frei, Menschen in ihren Systemzusammenhängen wahrzunehmen.
Dabei helfen Fragen wie:
– Gelingt es, die Situation aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten?
– Wird das gesamte System gesehen?
– Welche Regeln und Muster gibt es?
– Gibt es Subsysteme?
Der erweiterte Blick auf Systemzusammenhänge ermöglicht, Menschen als Persönlichkeiten in ihren jeweiligen sozialen Vernetzungen wahrzunehmen. Johann Wolfgang von Goethe lässt in »Wilhelm Meisters Lehrjahre« Natalie zu Wilhelm sagen (Goethe, 1795/96/1955, S. 530): »Wenn wir […] die Menschen nur nehmen, wie sie sind, so machen wir sie schlechter; wenn wir sie behandeln, als wären sie, was sie sein sollten, so bringen wir sie dahin, wohin sie zu bringen sind.«
Systemiker setzen auf Ressourcen und Lösungen
Alle Menschen verfügen über Ressourcen und Fähigkeiten. Ein Mitarbeiter kann sich beispielsweise mehrere Stunden konzentriert mit einem neuen Computerprogramm beschäftigen, findet aber keine Ruhe und Muße, um sich z. B. länger als fünf Minuten mit dem Protokollieren des letzten Meetings zu befassen. Warum kann dieser Mitarbeiter seine Konzentrationsfähigkeit, die er ja hat, nicht auch bei den Protokollen einsetzen?
Wenn wir als Berater mit diesem Mitarbeiter sprechen, geht es nicht darum, ihm Fähigkeiten wie Konzentration und das Lernen dieser Fähigkeit nahezubringen. Das kann er ja bereits. Es geht vielmehr darum, den Fokus darauf zu setzen, warum er seine vorhandenen Fähigkeiten in manchen Situationen nicht einsetzen kann.
Das heißt, im systemischen Denken liegt das Hauptaugenmerk auf den Ressourcen – nicht auf den Defiziten der Personen. Es geht darum, wie man seine vorhandenen Ressourcen lösungsbringend einsetzen kann.
Und zu guter Letzt:
Verändere ich mich selbst, verändert sich mein ganzes System
Wer systemisch denkt und handelt, hat zuallererst die Bereitschaft, sich selbst infrage zu stellen und zu entwickeln – also wie man sich sieht, definiert und benimmt. Es geht immer darum, das Selbstkonzept zu verändern und Handlungsoptionen auszuloten. Im systemischen Denken wird der Entdeckung dieses Raumes von neuen Handlungsmöglichkeiten eine besondere Bedeutung beigemessen.
Es gibt also nie eine Sichtweise. Immer betrachten Systemiker in einem System sich selbst, die anderen, das Verhalten zuund miteinander. Und dies im steten Wechsel der zeitlichen Veränderung. »Alles fließt!«, heißt die Devise.
Und wie flüssig verlief Ihre Lösungssuche?
Ein Video mit Auflösung der Aufgabe, sie stammt von Alex Bellos, finden Sie auf YouTube.
Quelle: Dieser Abschnitt ist entnommen aus:
„50 systemische Demonstrationen„